Französische Dachziegel und Kaiserbrosche

Glanzjahre der Victors „im Dornröschenschloss“ von Bad Oeynhausen

Lebenserinnerungen Walther Victors in Romanauszügen.

1894

Die Eltern von Walther Victor heiraten in Posen. Sein Vater Siméon Victor ist Sohn eines Ziegeleibesitzers, seine Mutter Regina Friedenthal die Tochter eines Kohlengroßhändlers. Beide sind jüdischer Abstammung und Religion. Sie ziehen nach Bad Oeynhausen, wo Siméon Victor Direktor der Tonwarenfabrik August Rasch wird. Sie wohnen zunächst in der Weststraße 7.

dazu Walther Victor in: Kehre wieder über die Berge […], S. 17/18

„Der entscheidende äußere Schritt war, dass er, sechsundzwanzig Jahre alt, gegen den Widerspruch seiner Familie, die an der Hochzeit nicht teilnahm, meine Mutter heiratete und sogleich mit ihr die Heimatstadt verließ, um die Stellung einer Dachpappenfabrik in Oeynhausen in Westfalen anzunehmen. Die Frau, die er mit sich nahm, galt als das schönste Mädchen der Stadt. […] Diese ganze Richtung scheint es gewesen zu sein, die den Eltern meines Vaters ganz und gar nicht passte. Siméon Victor kümmerte sich nicht darum. Er eroberte die leidenschaftlich begehrte, noch nicht zwanzigjährige Schönheit und ging mit ihr davon. Zwei junge Leute zogen aus, um sich zu lieben.“

Baubeginn des Direktionsgebäudes der „Thonwarenfabrik zu Oeynhausen“, Kaiserstraße 10, in dem Regina und Siméon Victor künftig wohnen werden. Bekannt ist es unter den Namen: Villa Victor, Villa Rasch, Villa Driesen, später im Volksmund nur noch „Dornröschenschloss“.

1895

Walther Victor wird am 21. April in Bad Oeynhausen geboren.

dazu Walther Victor in: Kehre wieder über die Berge […], S. 21/22

„Im Jahre 1899 [1898] fanden die sogenannten Kaisermanöver in Westfalen statt. Es waren jene Kriegsspiele seiner Armee, die Wilhelm II. ein Vorgefühl der herrlichen Zeiten verschafften, denen es entgegenzuführen er seinem Volk verheißen hatte. Ich war damals nur vier Jahre alt, und ich habe keine eigenen Erinnerungen an die Vorgänge, die in meinem Bewusstsein freilich deren Form annehmen mussten, weil sie den immer wiederkehrenden Gesprächsstoff bildeten und weil einzelne sichtbare Denkwürdigkeiten noch Jahrzehnte danach interessierten Zuhörern des langen und breiten erklärt wurden. „Was haben Sie da nur für eine wunderbare Brosche?“ mochte zum Beispiel ein Besuch meine Mutter fragen. […] aber es waren trotz ihres Wertes nicht die Edelsteine, die das Interesse hervorriefen, sondern es war die Form des Schmuckstückes, das eine Krone und einen Buchstaben zeigte, den Buchstaben „W“. War das übliche Stichwort für den Bericht über unsere Beziehungen zum Kaiserhaus aber einmal gefallen, dann gab es kein Halten mehr, und die, wie es schien, glanzvollste Episode aus der Geschichte des Hauses Victor wurde von Neuem geschildert.“

1889

Herbst-Kaisermanöver. Vom 5.-10. September schlägt Kaiser Wilhelm II. sein Hauptquartier in Bad Oeynhausen auf. Er selbst wohnt in der Farnevilla, seine adelige Begleitung im Kurhotel sowie in den Villen von Fabrikdirektor Siméon Victor und Dr.med. Koch.

dazu Walther Victor in: Kehre wieder über die Berge […], S. 22

„Bad Oeynhausen in Westfalen war einer der Hauptpunkte der Kaisermanöver von 1899 [1898]. Hier hatte der Generalstab Quartier genommen, und alle irgendwie dafür geeigneten Häuser und Villen waren für die Unterbringung der höheren und höchsten Herrschaften requiriert worden. So kam es, dass in der als Amtswohnung ihres Direktors dienenden, zur Dachpappen-Backsteinvilla der Prinz Adolf zu Schaumburg-Lippe einquartiert war. Das Haus erstarb vor der Ehre, den erlauchten Fürsten eines der das Reich bildenden Länder beherbergen zu dürfen, denn Bad Oeynhausen lag im Bereich des hauptsächlich in Schaumburg-Lippe rekrutierten Armeekorps, und der Prinz bekleidete gleichzeitig einen hohen militärischen Rang: Er war eine der wichtigsten Persönlichkeiten des ganzen Manövers. Das kam und ging und ritt und kutschierte vor, Adjutanten flitzten, Posten präsentierten – meine Eltern müssen in der Tat aus den Aufregungen nicht herausgekommen sein, und meine Mutter dürfte sich vollends in einem Zustande ununterbrochener elektrischer Hochspannung befunden haben. Und eines Tages, die Munition war verfeuert, der Feind geschlagen, die Truppen waren ins wohlverdiente Biwak gezogen, platzte die Bombe: Der Prinz wird ein großes Staatsdiner geben, zu dem der Kaiser und sein gesamter Stab erscheinen werden. Schauplatz die Villa Victor, mit an der Tafel Herr Direktor Siméon Victor und seine charmante Frau Gemahlin, die Dame des gastlichen Hauses.“

1898

Walther Victor, der kleine Sohn von Regina und Siméon Victor, ist zur Zeit des Kaisermanövers drei Jahre alt.

dazu Walther Victor in: Kehre wieder über die Berge […], S. 23

„Nur ein Intermezzo von den Vorgängen der historischen Stunde im Speisesaal wurde unzählige Male berichtet: Es begann damit, dass irgendjemand erwähnte, dass die bildschöne Frau Victor ein Kind habe. „Was, ein Junge? Soll reinkommen!“ Dies die verbürgten Worte des obersten Kriegsherrn und Monarchen. Leicht gesagt. Der vierjährige Jüngling konnte aus nicht weiter erklärten Gründen dem Vorgeführt-Werden keinen Geschmack abgewinnen. Er lehnte entschieden ab, zumal er sich gerade beim Abendbrot befand. Wie man jedoch weiß und wie man auch dazumal wusste, gab es bei Wilhelm II. keinen Widerspruch. Ich musste, ob ich nun wollte oder nicht. Aber mein Ei ließ ich mir nicht nehmen. Auch soll ich mich aus Leibeskräften dagegen gewehrt haben, mir den Latz abnehmen zu lassen […] Den Eierbecher mit dem halbgegessenen weichen Ei krampfhaft in der Hand, den Löffel in der anderen, das Eigelb lieblich verkleckernd und tränenüberströmt, trat ich „meinem“ Kaiser gegenüber. Ich war ein großer Heiterkeitserfolg. Auftritt und Abtritt dürften nur wenigen Minuten erfordert haben. Eine Ansprache des Hohen Herrn an mich ist infolgedessen auch nicht überliefert. […]

Dagegen klingelte es am nächsten Tag an der Haustür. Die Einquartierung war abgereist, die ganze Armee im Abmarsch. […] Ein schneidiger Offizier stand draußen […] Dann zog er ein Etui aus der Tasche: Ein Dankgeschenk seiner Majestät des Kaisers für die reizende Gastgeberin von gestern: Es war die Brosche, die meine Mutter gehalten hat wie ein Heiligtum. Mein Vater bekam die sogenannte „Lippische Rose“, einen Orden am roten, auf dem Frackhemd zu tragenden Band. Er hat ihn nur selten getragen. Und als unser und das kaiserliche Haus zu ungefähr derselben Zeit zusammenbrachen, die Inflation den letzten Besitz auffraß und meine Mutter nichts anderes mehr zu verkaufen hatte, ist auch […] die Kaiserbrosche den Weg alles Irdischen gegangen.“

1900

Sein Bruder Ernst wird am 24. April in Bad Oeynhausen geboren.

1901

Die Familie Victor zieht zurück nach Posen.

dazu Walther Victor in: Kehre wieder über die Berge […], S. 24

„Der Grund mag gewesen sein, dass mein Großvater väterlicherseits, der bald darauf starb, seinen ältesten Sohn die Leitung der Ziegelei zu übernehmen wünschte.“

 

Mit der Rückkehr nach Posen findet die Familie zu ihrer jüdischen Religion zurück.

dazu Walther Victor in: Kehre wieder über die Berge […], S. 31/32

„Mein Vater war in seiner Jugend mit rücksichtsloser, strenger Selbstverständlichkeit gründlich zum frommen Juden erzogen worden, und er beherrschte […] dessen Kult und die ungemein komplizierten Kenntnisse von Gebetsfolge, Bibel und Religionsgebräuchen vollkommen. Das Haus seiner Eltern war ein von moderner Aufklärung wenig berührtes, orthodox-jüdisches […] Sobald er aber dieses Haus verlassen hatte, wendete er sich unverzüglich in die Richtung des Zeitgeistes, behielt sorgsam für sich, was die ihm anerzogene konservative Lebensauffassung eigentlich von ihm gefordert hätte und nahm begierig in sich auf, was der Fortschritt propagierte.“

Rückblickend kritisiert Walther Victor den Vater, „… seinen Söhnen die Eintrittskarte in die bessere Gesellschaft des alten Deutschland vorenthalten [zu haben]“ (S.32) und führt dazu weiter aus:

dazu Walther Victor in: Kehre wieder über die Berge […], S. 31/32

„Vielleicht wäre das anders gewesen, wenn wir in Westfalen geblieben wären. In Oeynhausen gab es kaum Juden. Die Rückkehr nach Posen und die Notwendigkeit, in der dortigen großen jüdischen Gemeinde die Rolle zu spielen, die ihm als dem ältesten Sohn Moritz Victors von selbst zufiel, veranlassten meinen Vater sofort, seine gute jüdische Tradition zu mobilisieren. Die Welt ist sehr klein, und wenn mich später irgendwo draußen, besonders aber in Berlin, in den Exiljahren aber auch in London, Brüssel, Paris oder Zürich, irgendjemand auf der Straße lange ansah und schließlich darauf ansprach, ob ich nicht ein „Victor“ sei, dann erfuhr ich, dass es kein leeres Gerede war, wenn man zu sagen pflegte, alle deutschen Juden stammten aus Posen. So wurde ich denn, schon um der öffentlichen Angelegenheit der Barmizwoh in angemessener Form gewachsen zu sein, zum Mitglied der Jüdischen Religionsgemeinschaft abgerichtet.“

„Was war nun der Sinn der Religion, in deren Lehre ich eingeführt wurde? Es ist sehr schwer, dies in einer Zeit ehrlich zu besprechen, in der gerade das Judentum, wenn auch seiner angeblich rassischen Eigenschaften wegen, so unmenschlich und verbrecherisch verfolgt wird. Seit ich mündig bin […] habe ich mich stets als konfessionslos bezeichnet. Aber ich habe insbesondere nach Beginn der mörderischen Judenverfolgungen durch Hitler nie einen Hehl aus meiner jüdischen Abstammung gemacht. Dies ist nicht der Ort, um den Wahnsinn der faschistischen Rassentheorien von neuem ad absurdum zu führen. […] Eine aufrichtige Analysis anderer Kirchen und ihrer gesellschaftsethischen und pädagogischen Wirkungen würde vermutlich zeigen, dass die Reaktionen dessen, was mir in meiner Jugend als Äußerung jüdischer Religion gegenübertrat, denen der Jugend anderer Glaubensrichtungen ähneln. Skepsis ist mit gutem Fug der Grundzug dieser Epoche der Auflösungen geworden.“

1913

Walther Victor macht am Gymnasium in Posen sein Abitur und beginnt anschließend offiziell ein Jurastudium an der Universität in Freiburg, besucht aber tatsächlich vielmehr literaturgeschichtliche Vorlesungen. Dort kommt er erstmalig mit sozialistischem Gedankengut in Berührung, wird Mitglied der Freien Studentenschaft.

1918

Nach seinem Einsatz als Soldat während des 1. Weltkrieges wird er Mitglied eines Soldatenrates, immatrikuliert sich an der Universität Halle/Saale, gründet dort die Sozialistische Studentengruppe, tritt der SPD bei, erste schriftstellerische Versuche u.a. als Autor in der von Carl von Ossietzky herausgegebenen Zeitschrift „Weltbühne“ 1919 bis 1933, journalistische Tätigkeiten bei verschiedenen Zeitungen und Verlagstätigkeit.

1933

Walther Victor wird auf Veranlassung der Reichsschrifttumskammer entlassen. Er geht als „Walter Voigt“ in die Illegalität, flieht vor drohender Verhaftung in die Schweiz. Wegen politischer Betätigung aus der Schweiz ausgewiesen, findet er in Luxemburg, später in Frankreich und Portugal Zuflucht.

1940

Emigration in die USA, New York, gemeinsam mit Heinrich Mann, Franz Werfel u.a.

1942

Seine Mutter Regina Victor wird im KZ Theresienstadt ermordet.

1945

Freitod seines Vaters Siméon Viktor in Breslau.

Walther Victor veröffentlicht seine Autobiografie „Kehre wieder über die Berge“, die in New York in erster Auflage erscheint und mit seinen Kindheitserinnerungen an Bad Oeynhausen beginnt.

1947

Rückkehr aus dem Exil nach Berlin in die sowjetische Besatzungszone. Walther Victor tritt in die SED eintritt und wird mit der Pressestelle des sächsischen Ministerpräsidenten betraut. Als überzeugter Sozialist bleibt er dauerhaft in der DDR. Seit 1951 arbeitet er als freier Autor, gilt als ausgesprochener Goethe-Kenner, verfasst Biografien u.a. über Heine, Schiller, Marx und Engels, wird 1961 mit dem Nationalpreis der DDR und weiteren Verdienstorden ausgezeichnet. Als politischer und humanistisch gebildeter Mensch bleibt Walther Victor stets kritischer Beobachter des Systems und macht sich mit seinen öffentlichen Diskussionen über literaturtheoretische und kulturpolitische Fragen nicht nur Freunde.

1971

Walther Victor verstirbt am 19. August in Bad Berka. Begraben liegt er auf dem Ehrengräberfeld des Historischen Friedhofs in Weimar.

Sein Nachlass – das Walther-Victor-Archiv – befindet sich seit 1990 im Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin. Die Einbindung der Fotos erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Akademie der Künste.

Quellen:

  • Walther Victor: Kehre wieder über die Berge. Eine Autobiographie, Berlin/Weimar 1982. Textgrundlage bildet die im Sommer 1945 bei Willard Publishing Company New York erschienene „beschränkte Sonderausgabe für Freunde des Autors und Subskribenten…“.
  • HOF 13/1 Rechtsurteil i.Z. mit Zusammenlegungssache Niederbecksen (1896)
  • Lietz, S. 30 „Die Ziegelei und Tonwarenfabrik von Rasch befand sich an der Königstraße.“; S. 285 „Die letzte Tonwarenfabrik ging 1914 in Konkurs.“
  • Arbeitsordnung der Thonwarenfabrik Rasch (1885), Bib oder A-Magazin?